Der Tote aus der Fernleihe

Die Fernleihe ist unser Zugang zur Welt der wissenschaftlichen Bibliotheken. Knapp 400 dieser Ausleihen haben wir pro Jahr. Und jede Ausleihe ist ein Unikat – das gilt so manches Mal auch für den endverbrauchenden Leser.

Fernleihen stehen nicht auf den normalen Konten, sondern müssen immer von den zuständigen KollegInnen in Handarbeit verwaltet werden. Dafür sind uns viele dieser Fernleiher seit Jahren vertraut. Umso verwunderlicher ist es dann, wenn der Leiher sich so überhaupt nicht mehr meldet;  z.B. weil er zwischenzeitlich verstorben ist. In einem speziellen Fall durfte ich hier in Salzgitter mit dem Ordnungamt schon einmal in die Wohnung eines Verstorbenen und ein sehr teures Werk dort wieder herausholen.

Und erst neulich passierte es wieder. Aus dem kleinen realen Ernstfall entsponn sich neulich folgende Geschichte, die etwas bibliothekarisches Seemannsgarn enthält…

 

 

Herr Klüttenheber war überfällig. Nicht mit seinen normalen Büchern, von denen er nur wenig auf dem Konto hatte. Nein, Herr Klüttenheber hatte noch Bücher aus dem Leihverkehr. Seit Tagen versuchte die Kollegin Herr Klüttenheber zu erreichen. Keine Antwort auf Mails, keine Rückrufe – sehr ungewöhnlich. Herr Klüttenheber genießt einen tadellosen Ruf. Nie auch nur eine Mahnung. Verlängerungswünsche zeigt er sonst immer frühzeitig an. Da drückte man schon mal eine Auge zu. „Nur im Lesesaal“ – da wurde schon mal eine Ausnahme gemacht.

Drei Bücher sind überfällig und eine renommierte Universitätsbibliothek schickte bereits eine zweite Mahnung. Das Buch sei vorbestellt und möge nun umgehend zurückgesendet werden.

„Hm“, grübelte die Bibliothekarin, „was ist nur mit dem sonst so seriösen Leser?“ – zum ersten Mal kam ein Erinnerungsschreiben zurück. Na ja, ehrlich gesagt war es auch das erste Schreiben, das wir jemals an diese Adresse gesendet haben. Vielleicht wohnte der Herr Klüttenheber dort gar nicht mehr. Aber er war ja auch immer sooo zuverlässig.

Mit Erschrecken stellte die Kollegin fest, dass es sich um das gemahnte Buch aus der renommierten Universitätsbibliothek genau um so einen Sonderfall handelte: „Nur im Lesesaal.“ – „Tja, wir haben hier ja auch gar keinen Lesesaal. Da darf man doch mal ein wenig kulant sein, oder?“ sinnierte die Bibliothekarin bei der Durchsicht der verspäteten Bücher. Alle anderen Medien hatte sie immer wieder verlängern können.

 

Wenige Tage später…

„Du, hast Du gelesen, der Klüttenheber ist verstorben!“ – murmelte eine Kollegin vornüber in die Todesanzeigen der aktuellen Tageszeitung gebeugt. „Oh, deswegen hat er sich nicht gemeldet.“ schlussfolgerte die zuständige Fernleihexpertin. „Das ist jetzt aber blöd, der hat doch noch die eine Leihe „Nur für den Lesesaal“. Und hier kann er doch schlecht verstorben sein. Da müssen wir wohl zugeben, gegen die Leihverkehrsverordnung verstoßen zu haben.“

„Müssen wir nicht!“ sagte ein bisher in ein Brötchen vertiefter Kollege,“der Leser kann doch in der Bibliothek verstorben sein.“ – „Ja, sicher!“ erzürnte sich die Fernleihkollegin „und das sollen die dort in der Universitätsbibliothek glauben, oder was? – „Und…“ sinnierte sie weiter „…dann hätten wir erst recht keinen Grund, das Buch nicht zurück zu senden.“

„Die sammeln dort doch auch Bibliotheksmumien“ unterbrach die frisch ausstudierte Kollegin dieser Runde: „Das habe ich mal in einem Vortrag am Bibliotheksinstitut in Berlin gehört.“ – „Ja und, sprach nun die Fernleihexpertin – was hilft uns das? Das Buch bleibt erst einmal verschollen.“ – „Wie der Klüttenheber auch“ ulkte der nun mit dem Brötchen fertig gewordene Kollege. „Schreib doch einfach, der Leser wäre unglücklich über dem Buch zusammengebrochen und der Leichnam wäre nun nicht mehr vom Buch zu trennen. Entweder die Universitätsbibliothek schreibt das Buch ab oder wir schicken einen Toten in die Fernleihe…“

Peruvian_mummy(Bild: Copyright by E. Steinhauer)

„Dann müssen wir das Werk trotzdem bezahlen, ein hohen dreistelligen Betrag – aus welchem Topf nehmen wir das Geld?“ – „Das ist doch keine Lösung!“, empörte sich die Fernleihexpertin weiter. „Ausserdem, woher nehmen wir denn die Leiche? Selbst von den alten Stammkunden ist noch keiner mumifiziert.“

 

Wiederum einige Tage später…

„Hat sich das Ordnungsamt gemeldet, ob Dein toter Leser wirklich an der Anschrift wohnte?“ fragte eine Auszubildende, die gerade die „Letzte Mahnung“ der Fernleihbibliothek zur Spezialistin brachte. „Ach Gott ja – der Klüttenheber hat da wohl nie wirklich gewohnt. Das Buch können wir wohl abschreiben. Jaja, Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser!“ – „Die Beerdigung ist ja nun auch gewesen. Verwandte hatte der wohl auch nicht.“ – „Das Buch können wir wohl abschreiben!“, die Fernleihspezialistin schüttelte resigniert den Kopf und beugte sich über neue Fernleihen.

Die Auszubildende ging wieder zurück in ihr Büro und blickte auf den großen Stapel zu reparierender Bücher, die sich in der Abwesenheit ihres Blockunterrichtes auf ihrem Tisch gesammelt hatten. „Da sind aber auch wieder schedderige Dinger zwischen.“ grummelte sie. Nach einer Weile entdeckte Sie eine besonders dicke alte Schwarte: „Nanu, so etwas können wir doch gar nicht im Bestand haben. – Aber das ist ja…. – das Buch gehört uns auch gar nicht…- das ist ja… – das gibt es doch nicht, wer legt mir denn Leihverkehr zwischen die Reparaturbücher?“

 

Und so löste sich die gesamte Misere in Luft auf. Herr Klüttenheber war kurz vor seinem Tod noch bei uns und hatte das Buch auch zurückgegeben. Eine ordnende Hand fand das Werk aber so abstoßend, dass sie es einfach zu den Reparaturbüchern legte. Da blieb es dann solange unbeachtet liegen. Das Buch, es war einfach im Geschäftsgang verrutscht.

Und wer nun meint, die Bibliotheksmumien wären Seemannsgarn, der irrt. Bibliotheksmumien gibt es wirklich und dazu sogar Bücher eines sehr geschätzten Kollegen: http://eisenhutverlag.wordpress.com/2011/08/17/theorie-und-praxis-der-bibliotheksmumie/

Ob aber jemals eine Mumie im Leihverkehr geordert wurde entzieht sich leider meiner Kenntnis.

ScG – Gerald Schleiwies

 

 

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